Gefundenes Glück auf Zeit

Von Siegfried Letzel

Torgau. Wir befinden uns in einer verlassenen, mit Kopfsteinen gepflasterten Gasse. Beiderseits stehen die im gotischen Baustil errichteten Häuser unmittelbar nebeneinander. Die meisten sind recht betagte, zweistöckige Giebeldachhäuser. Ihre Fenster sind geschlossen. Der Geruch von Rauch, Kuh-, Schweine-, Pferde-und Hühnermist umweht uns mal stärker und mal schwächer wo auch immer wir uns hier befinden. Der Rauch aus den Kaminen verleiht den Häusern ein Aussehen, das jeden melancholisch werden lässt, der nicht durch einen längeren Aufenthalt bereits daran gewöhnt ist. Die Straßen sind leer, obwohl wir nahe am Stadtzentrum sind. Nur ab und zu begegnen wir jemandem. Die Leute grüßen freundlich, während sie an uns vorbei und ihrem Ziel entgegeneilen. Es ist kalt und wir haben Winter.

Es ist Dezember und nur noch knapp eine Woche bis Neujahr. Wir schreiben das Jahr 1804. Obwohl die Stadt recht groß und weitflächig angelegt ist, leben hier keine 6000 Einwohner. Die Stadt ist fast gänzlich vom Wasser der Elbe eingeschlossen … Plötzlich unterbrechen das Schlagen von Pferdehufen auf das Straßenpflaster und das Klappern von Kutschen und Karren die Stille.

Eine kleine Prozession kommt die Gasse herauf und hält vor einem der größeren Häuser an. Obwohl dieses in der Altstadt erbaut war, war es immer noch eines der ältesten Gebäude in der Umgebung. Die Lage scheint perfekt zu sein: Es sind nur wenige Schritte zu Kirche, Schloss und Rathaus. Die Geschichte des Anwesens reicht bis ins Jahr 1447 zurück und es ist als „Kurfürstliches Freihaus“ bekannt. Dokumente belegen, dass es hier schon vor dem katastrophalen Stadtbrand 1442 ein Haus gegeben haben muss. Man kann sich also gut vorstellen, dass dieses Anwesen schon im Jahre 1804 sehr alt und historisch gewesen ist.

Vor dem Haus sehen wir neben ein paar Helfern einen 50-jährigen, aristokratischen Herrn. Neben ihm seine Frau, 41 Jahre, und sieben Kinder zwischen 5 und 21 Jahren. Das Familienoberhaupt heißt Dr. Samuel Hahnemann, der neue Besitzer des Hauses. Er war von hagerer Gestalt und man sah ihm an, dass er nicht ‚auf fettem Boden‘ gewachsen war. Er war ein sehniger, kerngesunder Mensch. So klein und dürftig die äußere Erscheinung war, so offenbarte sie doch sofort – in der Haltung auf der Straße wie im Rahmen des eigenen Hauses gegenüber Besuchern und Kranken – die ungewöhnliche Würde und den überragenden Wert der Persönlichkeit.

Drei Räume und vier Kammern wird er im neuen Heim für seine Familie nutzen; eine Stube und eine Kammer (zusammen 60 m²) werden zu seiner Arztpraxis gehören. Die Wohnräume seiner Familie genügen einem Leben in beengten Verhältnissen.

Hahnemann verbringt in seinem Haus in Torgau die vermutlich glücklichsten und kreativsten Jahre seines Lebens. Seine Familie wird 1805 und 1806 um 2 Kinder reicher. Er fühlte sich im Kreise seiner Familie immer am wohlsten, zeigte seine liebenswürdigste Neigung zu Frohsinn und Heiterkeit. Mit seinen Kindern scherzte er in der Zeit, die er ihnen widmen konnte, sang den Kleinen Wiegenlieder vor, dichtete ihnen Liedchen. Jedoch traf die Familie in Torgau auch ein schwerer Schicksalsschlag: 1807 verstarb die 16-jährige Tochter Karoline.

1811 wird Dr. Hahnemann die Stadt mit seiner Familie wieder verlassen. Hauptgrund wird ein sich immer mehr annähernder Krieg sein. Torgau wird zu einer Festung ausgebaut. Das Stadtbild verändert sich völlig durch den Bau neuer Festungswälle. Stadtmauern und –tore werden abgerissen, auch viele Häuser und zwei Kirchen. Nun können sich Feinde nicht mehr ungesehen der Stadt nähern. Die Festung umschließt die Stadt mit mehreren Festungswällen, Verschanzungen, Mauern und Kasernen. Dr. Hahnemann weiß, dass er nicht mehr für die Sicherheit seiner Familie bürgen könne. Und damit hat er so recht: 1813 treffen die Stadt Torgau Belagerung, Beschuss, Bombardierung und Epidemien. Etwa 30 000 französische Soldaten und 1122 friedliche Einwohner verlieren ihr Leben.

Der Stich zeigt Hahnemann mit zwei seiner Kinder auf einer Couch.
Der Druck ist einer französischen Zeitschrift über Kunst entnommen, die 1856 veröffentlicht wurde und eine Kurzbiografie Hahnemanns enthielt.