1810 – der Beginn einer neuen Weltmedizin

Von Siegfried Letzel

Das klingt recht übertrieben, ist es allerdings nicht. Die Homöopathie breitete sich in recht kurzer Zeit über Deutschland, Frankreich, Europa, USA, Kanada, Brasilien, Indien aus und selbst in Hongkong gibt es heute eine sehr aktive Gruppe an Homöopathen. Homöopathie wurde wie selbstverständlich in Universitäten gelehrt und in großen Krankenhäusern praktiziert. Die Koexistenz mit der sogenannten Schulmedizin schwächte sich aber ab dem frühen 20. Jahrhundert zunehmend ab. Trotz inzwischen qualitativ hochwertiger positiver Studien in der Grundlagenforschung, in klinischen Untersuchungen und sogenannten Outcome-Studien wird die Homöopathie aus Richtung der hochkommerzialisierten konventionellen Medizin hart angegriffen. Goliath drängt David mit mehr und weniger fairen Mitteln in eine Nische, in der sie allerdings durch ihre sanfte Effektivität durchhält und von Therapeuten, Ärzten und Patienten sehr geschätzt wird.

Was aber hat es nun mit dem Jahre 1810 auf sich? Nun, die Forscherarbeit Dr. Samuel Hahnemanns während seiner Torgauer Zeit wird mit der Veröffentlichung des „Organon der rationellen Heilkunde“ gekrönt. Er fasst dieses Ereignis mit folgenden Worten zusammen:
„Ich rechne mirs zur Ehre, in neuern Zeiten der einzige gewesen zu seyn, welcher eine ernstliche, redliche Revision der Heilkunst angestellt und die Folgen seiner Überzeugung theils in namenlosen, theils in namentlichen Schriften dem Auge der Welt vorgelegt hat. Bei diesen Untersuchungen fand ich den Weg zur Wahrheit, den ich allein gehen mußte, sehr weit von der allgemeinen Heerstraße der ärztlichen Observanz abgelegen. Je weiter ich von Wahrheit zu Wahrheit vorschritt, desto mehr entfernten sich meine Sätze, deren keinen ich ohne Erfahrungsüberzeugung gelten ließ, von dem alten Gebäude, was, aus Meinungen zusammengesetzt, sich nur noch aus Meinungen erhielt… Die Resultate meiner Überzeugungen liegen in diesem Buche.“

Im ersten Teil dieses Werkes stellte er der herkömmlichen Heilbehandlung seine neu gefundenen Heilregeln gegenüber und belegte seine Lehren mit zahlreichen Beispielen. Vor allem kritisierte er die palliativen Behandlungsansätze der bisherigen Medizin (contraria contrariis curentur). Seine, von ihm als ‚echter Heilweg‘ beschriebene Wahrheit lautete: „Wähle, um sanft, schnell und dauerhaft zu heilen in jedem Krankheitsfalle eine Arznei, welche ein ähnliches Leiden vor sich erregen kann, als sie heilen soll (similia similibus curentur)! Diesen homöopathischen Heilweg lehrte bisher niemand.“ Zwar hatte Hippokrates lange zuvor geraten: „Durch Anwendung eben desselben, was die Krankheit hervorbringt, genest man auch wieder von der Krankheit.“ – was Hahnemann fairerweise auch zitierte – aber vor ihm hat niemand eine ‚Reine Arzneimittellehre‘ (Materia medica pura) erschaffen, die diese pathogenetischen Eigenschaften von Arzneisubstanzen beschreibt und sie nach diesem Prinzip anwendbar machte.

Um Hahnemanns Verdienst an dieser Erforschung einer ‚berechenbaren‘ Heilbehandlung Kranker korrekt zu würdigen möchte ich Dr. Richard Haehl, früherer Besitzer der meisten Hahnemannschen Handschriften, aus dessen Hahnemann-Biografie (1922) zitieren:
„Die Wahrheit einer zuverlässigen naturgemäßen Heilmethode war von Urbeginn der Schöpfung und der Menschheit an vorhanden; die Homöopathie ist ein untrennbarer Bestandteil der Schöpfung selbst. Diese Tatsache wurde schon im Altertum von hellen Geistern erkannt; sie ist, verschüttet unter den Trümmern der zusammengebrochenen griechischen Kultur, in die dunkelsten Ecken gefegt durch Roms kriegerische Weltmachtgelüste, völlig übersandet durch die sintflutlichen Sturzwellen der Völkerwanderung immer wieder bei diesem oder jenem erleuchteten Geiste zum Vorschein gekommen; sie hat also bis in die Zeit Hahnemanns selbst immer wieder einzelne Aufsehen erregende Heilerfolge gezeitigt; aber es waren und blieben immer nur Sonnenblicke durch den Jahrtausende alten Nebel der herkömmlichen Vorurteile und Lehrmeinungen, Einzelergebnisse ohne Zusammenhang und nähere Begründung, Augenblickseingebungen ohne ein auf Erfahrung gegründetes, wissenschaftliches Lehrgesetz. Hahnemann fand in seiner großen umfassenden Belesenheit da und dort zerstreut die Goldkörner; er schürfte weiter, rastlos, mit fast leidenschaftlicher Selbstverleugnung und Aufopferung, und so stieß er endlich auf die volle Goldader im festen Quarz. Und dann begann seine eigentliche Arbeit, sein Lebenswerk: die bergmännische Erfassung und der planmäßige Abbau. Er stellte feste Wege her, führte nach seinem wohlüberlegten Plane die ganze Neuanlage aus, sie immer wieder erweiternd und festlegend und im Innern ausbessernd; und er wurde so tatsächlich der Schöpfer und Vater einer neuen Heilkunst, der Heilkunst der Homöopathie: das ist und bleibt sein Verdienst und sein kulturgeschichtlicher Ruhm, der ihm von niemand mehr geraubt und geschmälert werden kann.“

Dr. Samuel Hahnemann war weder Heiliger, Prophet noch Superman. Aber er war ein brillanter Wissenschaftler, der souverän auf der Welle der Aufklärung surfte. Er veränderte unser Weltbild in vielen Facetten und hat damit bis auf den heutigen Tag Einfluss auf unser modernes Leben genommen. Er hat beträchtlich dazu beigetragen, die Grundsteine der neu entstehenden Wissenschaften in ihren Mauern zu verankern. Er, der Übersetzer, Chemiker, Pharmazeut, Arzneikundige und Arzt, hat sein Wissen zur Schaffung einer gesünderen Welt genutzt. Es ist an uns, ob wir seiner Heilkunst offen gegenüber stehen oder nicht. Ihm dürfte es ziemlich egal sein. Für uns kann seine wissenschaftliche Arbeit jedoch beträchtlich zu einer verbesserten Lebensqualität beitragen. Vergessen wir nicht: dieser Mann wurde 88 Jahre alt und betrieb bis kurz vor seinen Tod am 2. Juli 1843 eine überaus erfolgreiche Arztpraxis in Paris und er verbesserte und vervollständigte sein Organon der Heilkunst bis zu einer 6. Auflage, wofür er 1842 die letzten Worte schrieb – und selbst dabei deutet sich an, dass er noch nicht fertig war …